Zen-buddhistische Tuschmalerei in Japan - Teil A
Kursleiter: Klaus Bertelsmann
"Das Universum trennt sich nicht vom Menschen ab, es ist der Mensch, der sich vom Universum trennt." (Dschju-yüen, 1139-1192)
Einleitung
Angeregt durch eine Begegnung mit Graf Dürckheim habe ich mich annähernd vierzig Jahre mit zen-buddhistischer Tuschmalerei beschäftigt. Meinem Naturell und der Meinung folgend, daß über alle historischen und soziokulturellen Unterschiede hinweg es möglich sein müßte, sozusagen "live" mit den chinesischen und japanischen Werken zu kommunizieren, war es eine eher praktische als theoretisch-wissenschaftliche Annäherung an den Formenkanon, an Abstraktionen und Bildzeichen der Tuschemalerei und ihre Fähigkeit, eine Brücke zwischen Natur und bildnerischer Arbeit zu schlagen. Es hat mich also die theoretisch kulturgeschichtliche Interpretation, deren Wichtigkeit außer Frage steht, weniger interessiert als die dem Maler und Zeichner eher gemäße direkte Verbindung. Inzwischen sind Einführungen in Geisteshaltung und Technik fernöstlicher Tuschmalerei ein Bestandteil meiner Kurse für "Meditatives Zeichnen und Malen" geworden und die Ergebnisse weisen meines Erachtens nach, daß wir als Europäer vom Naturverständnis und von den bildnerischen Entdeckungen der chinesischen und japanischen Tradition lernen können. Wenn Sie die Übungsmodelle und -ergebnisse im zweiten Teil dieses Artikels betrachten, werden Sie feststellen, daß dies zutrifft und zwar weit von jeder äußerlichen Imitation oder Kopie der zen-buddhistischen Originale entfernt.
Dieser Beitrag beginnt "trotzdem" mit dem Versuch einer kurzen Einführung in Zen als dem Hintergrund der traditionellen fernöstlichen Tuschmalerei. Der zweite Teil dieses Artikels ist der bildnerischen Praxis gewidmet und lädt Sie zu eigenen Übungen der Tuschmalerei ein.
Technische Hinweise über Material und Pinselhaltung schaffen die Voraussetzungen dafür.
Verblüffend zeitlos..
..beweisen die zen-buddhistischen Tuschmalereien, daß kühne Abstraktionen den unmittelbaren Kontakt zur Natur nicht gefährden müssen, daß sie im Gegenteil das Wesentliche ihrer Erscheinungsformen freilegen können.
Intensives Naturstudium, wie es den fernöstlichen Tuschmalereien zugrunde liegt, kann auch uns heute noch mit einem Gestaltungspotential versehen, das ich, weit über die Malerei und Zeichnung hinaus, für allgemein übertragbar halte.
Wenn wir dem augenblicklichen Trend zur Naturentfremdung, zur fast ausschließlichen Konzentration künstlerischer Arbeit auf Aspekte der technischen Sekundärwelt etwas entgegensetzen wollen, spricht alles dafür, sich auch mit solchen Vorbildern zu befassen, ohne sie nur äußerlich zu imitieren.
Was den künstlerischen Arbeitsprozeß unmittelbar betrifft, läßt sich auch von der vitalen Spontaneität etwas lernen, welche die zen-buddhistische Tuschmalerei auszeichnet. Alle Mühsal der Übung liegt da vor dem entscheidenden Schritt der Bildgestaltung, die keine Unsicherheit, kein Zögern mehr bei der Wahl der bildnerischen Mittel erkennen läßt.
Meditative Verbindung statt Auseinandersetzung
Im Kontrast zur vorherrschenden Programmatik westlicher Kunst, zielt die zen-buddhistische Tuschmalerei Chinas und Japans nicht auf konfrontative Auseinandersetzung mit ihren Themen, sondern auf meditative Verbindung, auf die Auflösung der dualistischen Spannung zwischen Maler und Sujet.
Vor allem erhebt sie nicht den Anspruch der Künstlerperson, in Abgrenzung zur Natur über Bedeutung, Wert und Unwert ihrer Erscheinungen zu urteilen. Der Mensch ist hier nicht das Maß aller Dinge.
Die überwiegend von den Äbten und Mönchen zen-buddhistischer Klöster praktizierte Tuschmalerei ist ein Weg zur Tiefendimension des noch "Ungeschiedenen" (Martin Buber), zur alles Formschaffen in der Natur bewirkenden Kraft, die selbst, als Zentrum der kosmischen Ordnung formlos, weder zu beschreiben noch zu erklären ist.
Nach dem Prinzip des "Eins in Allem, Alles in Einem"..
..weist laut zen-buddhistischer Lehre jede Einzelheit der Natur auf diesen transzendenten Urgrund der Welt hin.
In der bildnerischen Analogie kann daher jeder noch so kleine Naturausschnitt das kosmische Ganze und seine Gesetzmäßigkeiten beispielhaft spiegeln.
Als Ergebnis kontemplativer Versenkung gelingt dem Maler die absolute Identifikation mit seinem Thema und das Tuschbild entsteht mit der Selbstverständlichkeit natürlicher Formgesten, dem Wachstum einer Pflanze vergleichbar.
Die zen-buddhistischen Tuschmalereien zeigen gespannte Asymmetrien der Formverteilung im Bildraum und unterscheiden sich darin von der im allgemeinen sehr viel zentraler angelegten Komposition abendländischer Malerei und Grafik. Die Linearperspektive, wesentliches Mittel der Raumordnung in der westlichen Kunst, fehlt fast ganz. Tonkonzentration und -aufhellung der schwarzen Tusche bewirken Raumtiefe und Raumgliederung.
Wie der Naturraum wird auch seine bildliche Übersetzung nicht als bedrohliche, um jeden Preis zu füllende Leere gesehen, vielmehr als Ursprung und Geborgenheit aller Erscheinungen.
Die im Verhältnis zum Bildganzen oft zeichenhaft reduzierte, vom Maler gesetzte Form entspricht dieser Auffassung.
Impulse für ein tieferes Naturverständnis
Die Erfahrungen, die ich den Teilnehmern meiner Kurse verdanke, zeigen mir, daß immer mehr Menschen das tradierte Naturverständnis fernöstlicher Kulturen für aktuell und richtungsweisend halten.
Es findet seinen exemplarischen Ausdruck in der zen-buddhistischen Tuschmalerei.
Angesichts der Impulse, die wir hier gewinnen können, ist die Tatsache gegensätzlicher Entwicklungen und westlicher Überfremdung im heutigen Japan, im heutigen China von zweitrangiger Bedeutung.
Wann und wo auch immer das schöpferisch Besondere sich ereignet, es bleibt unverlierbar und über alle Kulturkreise hinweg, geschieht es für uns alle.
Die zen-buddhistische Lehre als geistiger Hintergrund der chinesischen und japanischen Tuschmalerei
Ziel des Zen ist die Aufhebung des dualistischen Denkens, der absolute und schließlich das Gefängnis der Ich-Bezogenheit sprengende Einklang mit dem Kosmos.
Durchaus diesseitig dem Leben zugewandt, überwindet Zen die unserer westlichen Welt so leidvoll vertraute Erfahrung, das Hier und Jetzt nicht wirklich leben zu können: "Zwischen gestern und morgen gezerrt, versäumen wir die Gegenwart" (Emile Zola).
Zen überläßt alle Erscheinungen der Natur ihrem unabhängigen Selbstsein und mißt ihnen die gleiche Bedeutung zu.
Zen leitet keine Wertvorstellungen ab aus dem Grad menschlicher Betroffenheit, es urteilt nicht in Kategorien wie "gut" oder "schlecht", "nützlich" oder "unnütz". Zen sieht alle Gegensätze als Polaritäten eines Ganzen vereint und aufgehoben.
Auf der Suche nach dem Urgrund des Seins stellt Zen kein in sich geschlossenes religions-philosophisches System mit entsprechendem Regelwerk vor und unternimmt auch keinen Versuch, am Ende logischer Verknüpfungen die Welt rational zu erklären.
Wie Zazen, die Zen-Meditation im Sitzen, ist auch Zenga, die schwarzweiße Tuschmalerei, eine Brücke zu Satori, zur Erleuchtung. Geistige Konzentration, Demut im Verhältnis zur Natur und eine einfache Lebensführung sind die Voraussetzungen für ein Leben in Zen.
Zeittafel
Um 520 n. Chr. wird der Zen-Buddhismus in China durch den legendären indischen Priester Boddhidharma begründet.
Zen bewahrt die Lehre des indischen Religionsstifters Shakyamuni Buddha (um 560-480 v.Chr.) wohl in ihrer konsequentesten Form.
Im 12.-13. Jh. nach Japan ausstrahlend, fand der Zen-Buddhismus dort im 16.-17. Jh. seine Blütezeit und hatte einen starken Einfluß auf die kulturelle Entwicklung Japans bis zur Gegenwart.
Wahrscheinlich nur mit zwei Zügen des quer zum Wachstumsverlauf gehaltenen Pinsels entstand der Bambusstamm.
Im Wechsel zwischen Haarstrich und flächigem Auflagedruck hat Fugai die Bambusblätter und die Gestalt des kleinen Vogels gezeichnet.
Warum immer wieder Bambus als zentrales Motiv der Tuschmalerei? Abgesehen von ihrer ästhetischen Schönheit ist diese Pflanze wohl das prägnanteste Beispiel natürlicher Formentfaltung aus energetischer Sammlung zur Expansion im Raum.
Am Anfang und am Ende eines Wachstumssegmentes stabilisiert sich das Wachstum zu konstruktiver Festigkeit: Vorbereitung und Ausgangspunkt für Verzweigungen und Raumkontakte der Pflanze (und eine Parabel für die Handlungs- und Ausdrucksmuster des Menschen).
Lesen Sie bitte auch Teil B (Praxis)
Autor: Klaus Bertelsmann vom 01.01.2001
Einen weiteren Reisebericht finden Sie hier: Japan entdecken